Ausgewählte Texte

Eva-Marina Froitzheim "Lebensrätsel" in Katalog "Andreas Grunert – Figuren und Nichtfiguren", Südwestbank Stuttgart, 2004

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Als Maler und Erfinder ist Grunert so etwas wie ein poetischer Realist. Für diese Einschätzung gibt es genügend Indizien. Fast allen seinen Arbeiten fehlt ein Titel. Wenn überhaupt, benennen die Titel das, was man ohnehin sieht. Schon allein darin ist Grunert einem Realisten wie Stendhal vergleichbar, der komplexe methaphorische Ausdrücke zur Kennzeichnung von Personen oder Situationen abgelehnt hat. Grunert lässt das Absurde so natürlich und realistisch wie möglich erscheinen, in dem er die verwendeten Elemente für sich selbst sprechen lässt. Die Dinge sind erkennbar, bleiben in ihren Eigenschaften unverändert. Allerdings ordnet er sie wie ein Regisseur auf seinen Bildbühnen an. Je genauer er die Teile und ihren imaginären Zusammenhang charakterisiert, desto überzeugender ist der Gesamteindruck. So präzise, wie der Schriftsteller Stendhal mit seinem Werkzeug umgeht, mit Worten und deren grammatikalischer Verknüpfung, so präzise und wissend setzt Grunert sein malerisches und zeichnerisches Werkzeug ein. Grunerts kreativer Akt besteht nicht in einer Neuerfindung von Dingen, stattdessen kontrolliert er in langwierigen und über Jahren andauernden Arbeitsprozessen genau deren Beschaffenheit und ihr immer verändertes Zusammenspiel auf der Fläche. Die Gestaltung der Fläche (oder der Leere als einer Erscheinungsform von Fläche) stellt für sich genommen die größte malerische Herausforderung für Grunert dar, an der sich auch seine Qualität als Maler offenbart. Dieses Widerspiel zwische Fläche und Gegenstand vollzieht sich aber nicht in einem Akt abstrakter Logik und Durchdringung, sondern auf intuitivem Wege und über intuitive Entscheidungen während der Arbeit, wobei diese in erster Linie von dem Prinzip des Paradoxons bestimmt wird. 
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Ulrike Gauss in Katalog "Andreas Grunert und Reinhard Scherer", LKB Baden-Württemberg, Stuttgart, 1986


Andreas Grunerts Leben und Werk spiegeln ein Suchen nach Ortung und Sinn; getrieben von der Unruhe durch stetige Änderung wachsender Erkenntnis und wechselnder Verunsicherung. Ihn interessieren die Zustände, in denen Menschen sich befinden, ihr Befinden im Augenblick, der einzig sicheren Wirklichkeit. Doch momentane Zustände lassen sich nicht in Permanenz überführen, in Malmaterie verfestigen. Demzufolge geht von den Malereien Grunerts eine ständige Sogwirkung aus. Die durchsichtige Malweise, lasierend, wässrig dünn, suggeriert Fließen, Ziehen, Auftauchen und Verschwinden. Die diaphane Erscheinung seiner Bilder korrespondiert mit einer eigenen Ikonographie, die sich nicht mehr nach historischen Mustern lesen lässt. Individuell erfundene Phantasmagorien entstehen isoliert in ungewussten Bedeutungsgeschichten vor uns. Symbolhaft scheinende Mensch-Tier-Pflanzenfigurationen, ihrer tradierten Symbolkraft durch absurde Konstellation im Bild entzogen, werden neue, nicht verbalisierbare Aussageträger. Wir als Betrachter reagieren auf die Begegnung mit diesen Bildern mit Assoziation und Reflexion. Die Ambivalenz der unmittelbar aufblitzenden Aussagen oder Deutungen wie des dauernd Bewegten ist allen Werken Grunerts eigen: Kommen oder Gehen. Auftauchen oder Verschwinden. Hierin lässt sich Grunerts Kunst direkt unter der Perspektive des französischen Urbanisten und Philosophen der Avantgarde Paul Virillo beleuchten, der die moderne Kunst unter dem Aspekt der "Erzeugung von Geschwindigkeit analysiert, die mit dem Film, also der schnellen Abfolge von einzelnen Bildern, in die Phase der Ästhetik des Verschwindens eingetreten ist" (...). (Rötzer, Kunstforum 84, 1986)


Jochen Hörisch "Festes und Fliessendes" in Katalog "Andreas Grunert", Galerie Huber-Nising, Frankfurt, 1995

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Geglückte Gemälde kann man zeitlich (fast) unbegrenzt betrachten. Zumal dann, wenn sie so tiefsinnig und ironisch wie Grunerts Bilder zu "denkender Betrachtung" (Hegel) über die Abgründe von Zeitlichkeit einladen.
Vieles spricht dafür, dass die bildende Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts ihre (im Vergleich zu anderen Künsten) temporale Überlegenheit nicht mehr als Vorteil, sondern als Beeinträchtigung erfahren hat. Dalis weiche Uhren, die vergänglichen Materialien einiger Beuys-Objekte, Performance- und Aktionskunst: lauter Versuche, der bildenden Kunst ihre genuine Überzeitlichkeit auszutreiben. Anders die Denkbilder von Andreas Grunert. Sie ermöglichen eine enthusiastisch gelassene Zeit-Betrachtung, wie sie die (im Vergleich zur alltäglichen Zeiterfahrung, aber auch im Vergleich zu den Zeitkünsten) genuin andere Zeitordnung der bildenden Kunst selbstbewusst in Szene setzen. (...)
Die Unterscheidungen, die alles Denken und Reden über Zeit umtreiben, sind die von Dauer und Wechsel, von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Zyklizität und Linearität. Diese Distinktionen werden in Grunerts Bildern anschaulich - mitsamt den Paradoxien, die ihnen innewohnen. (...)
Den Rätseln von Raum und Zeit fragen Grunerts Denkbilder nach. In besonders eindringlicher Weise tut dies das Bild "Gestern-Heute-Morgen". Es zeigt eine Figur, die jeweils auf dem Höhepunkt von zwei Zeitbögen aus einem bzw. in ein Portal tritt, das dritte, durch den dreifachen Titel angezeigte Portal aber ist ausgespart. An seiner Statt findet sich im rechten unteren Bildraum ein überdimensionaler Brotlaib. Grunerts Bilder sinnen über die Paradoxie nach, dass es Vergangenheit und Zukunft nicht eigentlich gibt - gibt es doch, wie schon Augustinus erkannte, nur die Gegenwart und die Gegenwart des Vergangenen bzw. Zukünftigen. Dass auch die Gegenwart nicht ständig gegenwärtig, sondern nur als schwindende gegenwärtig ist, macht die Ekstasen der Zeitlichkeit nicht weniger abgründig. (...)
Grunerts Denkbildern sind solche melancholischen Zeitklagen vertraut. Aber sie setzen ihnen einen feinen ironischen Gestus entgegen, der aller Aufmerksamkeit wert ist. Denn Grunerts Bilder haben ein Wissen davon, dass die Zeit nicht nur nimmt, sondern auch gibt. Den Brotlaib auf dem Bild "Gestern-Heute-Morgen" wird man als Allegorie dieser Gabe verstehen dürfen. 
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    Wilfried Seipel in Katalog "1 Nervensommer", Texte von Friederike Mayröcker, Bilder von Andreas Grunert, Kunsthistorisches Museum Wien, 2002

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    Andreas Grunert bedient sich in seinem Werk einer archaisch anmutenden Bildsprache, die von der Reduktion auf eine sehr sparsame Farbpalette und Zeichensetzung geprägt ist. Er verzichtet in seinen Kompositionen auf jegliche Zentralperspektive, auf Modellierung und damit auf Plastizität. Sein Bildraum endet mit der Malfläche, wobei die Leinwand oft ungrundiert bleibt, die Motive scheinen geradezu auf diesem offenen, bodenlosen Bildgrund zu schweben. Einzelne Motive wie menschliche Figuren, Tiere oder Gegenstände sind wohl deutlich wiederzuerkennen, doch sind sie keinem Handlungsablauf unterworfen und ihr Zusammenhang bleibt rätselhaft. Grunert verwendet seine eigene, über Jahre hinweg entwickelte Symbolsprache. Er schafft damit surrealistisch anmutende Traum-Bilder, die zur Assoziation anregen, die sich jedoch einer endgültigen Entschlüsselung entziehen. Und genau das ist die Intention des Künstlers, der seine Arbeit selbst als intuitiv bezeichnet und in dem Geheimnis einen Wert an sich sieht. Raum und Zeit werden in Grunerts Bildern bedeutungslos und doch spielen gerade diese Komponenten eine große Rolle, da sich der Mensch ihnen nicht entziehen kann. Grunert Werke wollen nicht belehren, sie möchten als Denkbilder verstanden sein, die zur mediativen Betrachtung und zum Nachdenken einladen. 
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    © Andreas Grunert/VG Bild-Kunst, Bonn 2024